Poesie der Zeit. Michael Ruetz
Wie lassen sich Zeit und Vergänglichkeit sichtbar machen, wie Umbrüche und Veränderungen einer Gesellschaft oder eines Stadtraumes dokumentieren? Wie kaum ein anderer Künstler hat sich Michael Ruetz mit diesen Fragen beschäftigt. Seit Mitte der 1960er-Jahre beobachtete er in einer großangelegten fotografischen Studie den Wandel natürlicher und urbaner Lebenswelten an Orten in Berlin, Deutschland und Europa und hielt die Veränderungen in einer Folge von Bestands- und Momentaufnahmen fest. Seine Timescapes entstanden in einem Zeitraum von fast sechzig Jahren und umfassen mehr als 600 Serien mit tausenden von Aufnahmen. Das zentrale Konzept der Timescapes besteht darin, dass Standort und Sichtachse der Kamera stets dieselben sind, nur die Zeitintervalle der Bilderserien variieren.
Im Mittelpunkt der Ausstellung am Pariser Platz stehen die Timescapes von Berlin. Der tiefgreifende Wandel der deutschen Gesellschaft in der Nachkriegszeit, nach der Wiedervereinigung und in der Gegenwart ist in den Fotoserien besonders wirkungsvoll verdichtet. Schauplätze der Macht oder von historischer Relevanz wie der Potsdamer Platz, das Brandenburger Tor, der Schlossplatz, Gendarmenmarkt, das Regierungsviertel oder die Berliner Mauer haben vor allem seit 1989/90 eine rasante Änderung erfahren. Gebäude und Blickachsen verschwinden oder entstehen neu, Straßen werden zurückgeführt oder anders benannt, Plätze radikal umgestaltet, freie Flächen bebaut, Brachen wiederbelebt.
Ruetz’ Berlinaufnahmen erzählen davon, wie Architektur unsere Lebensräume aus- und umgestalten kann und damit eine Deutungshoheit über unsere Wahrnehmung erlangt. Dabei entwickeln seine Bilderserien eine eigene Ästhetik abseits dokumentarischer Nüchternheit und offenbaren so eine Poesie der Zeit. Zugleich mahnen Ruetz’ Bilder dazu, in einer Zeit existentieller ökologischer und sozialer Krisen, die Prinzipien von Stadtentwicklung und Städtebau zu überdenken.
Die Timescapes und ihr dokumentarischer Apparat sind Teil des umfangreichen Michael-Ruetz-Archivs der Akademie der Künste. Es umfasst neben seinen berühmten Fotoserien auch seinen schriftlichen Vorlass.
Michael Ruetz, 1940 in Berlin geboren, gehört zu den renommiertesten Fotokünstlern Deutschlands. Seine Karriere begann er Ende der 1960er-Jahre als Mitglied der Stern-Redaktion in Hamburg. Bekannt wurde er unter anderem durch Aufnahmen der westdeutschen Studentenbewegung. Seine Bilder aus der APO-Zeit gehören inzwischen genauso zum kollektiven Bildergedächtnis, wie seine Reportagefotos aus Griechenland zur Zeit der Militärdiktatur oder von der Nelkenrevolution in Portugal. Seit 1975 arbeitet Ruetz als selbstständiger Fotograf und realisiert vorwiegend Buchprojekte. Von 1982 bis 2007 war er ordentlicher Professor für Kommunikationsdesign an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Er erhielt mehrere Preise, unter anderem 1979 den Otto-Steinert-Preis oder 1981 den Villa-Massimo-Preis. 2002 wird er zum Commandeur de L’Ordre des Arts et des Lettres ernannt. Michael Ruetz ist seit 1998 Mitglied der Sektion Film- und Medienkunst in der Akademie der Künste.
Eröffnung: Mittwoch, 8.5.2025, 11 Uhr