Architektur im Kulturkampf
Die Geschichte der russischen Architektur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist geprägt von großen Widersprüchen. Schon ihre Ursprünge deuten darauf hin. Während die Avantgarde des neuen, bis heute radikal anmutenden Konstruktivismus vorwiegend in der Hauptstadt Moskau angesiedelt war, sahen sich die Verfechter des neoklassischen Stils der traditionellen Baukunst Sankt-Petersburgs verpflichtet. Dabei galten beide Strömungen zunächst jeweils als Architektur der Revolution. In den 1920er Jahren kreuzten sich Ihre Linien und offenbarten nicht nur künstlerische Gräben sondern auch unterschiedliche Ideologien. Der Neoklassizismus, von den Bolschewiki zum Inbegriff von Kultur und Repräsentation erhoben, erstarkte im darauffolgenden Jahrzehnt zum beherrschenden Nationalstil der Sowjetunion, drängte modernere Strömungen an den Rand der künstlerischen Szene oder bestenfalls in eine Art Synthese, im Stil vergleichbar mit dem westlichen Art déco.
Die Ausstellung beleuchtet anhand der umfangreichen Sammlung Sergei Tchobans die ideologische und künstlerische Kluft zwischen den beiden architektonischen Hauptströmungen von der Jahrhundertwende bis zum Tode Stalins im Jahre 1953. Sie gibt in ausgewählten Beispielen den Blick frei auf das Spannungsfeld zwischen Tradition und Fortschritt, Kunst, Technik, Geschichte, Visionen – und nicht zuletzt auch auf die kulturelle Konkurrenz der beiden russischen Metropolen Leningrad/Sankt-Petersburg und Moskau.