Die Röhre
Anfang der 1980er Jahre entwickelte der Architekt und Werkbündler Günther L. Eckert eine architektonische Utopie: Eine oberirdische, die Erdkugel umspannende riesige Röhre, die Lebensraum für die gesamte Menschheit bieten sollte. Mit einem technisch detailliert ausgearbeiteten Entwurf wollte Eckert nachweisen, dass die gesamte Menschheit in Wohlstand auf der Erde leben kann, ohne sie weiter auszubeuten und zu zerstören. Im Unterschied zu vielen utopischen Konzepten plante Eckert kein (N)irgendwo oder (N)irgendwann. Vielmehr entwickelte er aus den der Technik innewohnenden Tendenzen einen in sich geschlossenen Regelkreis. Es kam ihm darauf an, dass die wie ein Raumschiff wirkende Konstruktion im Hier und Jetzt mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und Techniken gebaut werden könnte. Eckerts Vorstellungen zielten im Kern nicht auf das architektonisch-technische Konstrukt. Vielmehr hoffte er, dass die Menschen ihr „Ich“ zugunsten eines „Wir“ aufgeben und sich auf ein von allen gemeinsam getragenes Projekt verständigen könnten. Die Röhre war von ihm als ein mögliches Gehäuse für eine solche, vom „Wir“ bestimmte menschliche Gesellschaft gedacht.
Inzwischen ist fast ein halbes Jahrhundert her, seit Eckert seine Idee entwickelt hat, und nur mit Schrecken kann man konstatieren, dass seine Überlegungen nichts an Aktualität verloren haben, ja aktueller denn je sind. Denn sein Konzept lässt nach wie vor überzeugend die Dimensionen der unausweichlichen Veränderungen erkennen, die wir im Verhältnis zur Natur als Quelle und Grundlage unseres Lebens entwickeln müssen.
Wie klug Eckerts architektonisches Grundkonzept ist, lässt sich im Vergleich zu aktuellen Arkologien, so zum Beispiel dem Projekt „Neom – The Line“ feststellen, einem 170 km langen, 500 m hohen und 200 m breiten Gebäudekomplex, der vom Roten Meer aus in die Wüste Saudi-Arabiens gebaut werden und neun Millionen Menschen exklusiven Platz bieten soll. Denn trotz der hohen Verdichtung erweist sich dieses Projekt nur als eine Variante der Architektur vom „Überlistertyp“ (Ernst Bloch), für die, ganz abgesehen vom gigantischen Ressourcenverbrauch im Zuge seiner Errichtung, ein riesiger ökologischer Schaden in Kauf genommen werden muss. Dagegen zeichnet sich Eckerts Entwurf dadurch aus, dass er aus den in „unserer“ Technik angelegten Tendenzen die radikale Konsequenz zieht und, Buckminster Fuller’s Idee des „Raumschiff Erde“ neu durchdenkend, mit dem Kontinuum den Vorschlag macht, „unsere“ Technik zu einem in sich geschlossenen Regelkreis zu entwickeln, der den Charakter eines Raumschiffs auf der Erde hat.
Eckerts Entwurf hat daher und vor allem, weil er die Realisierbarkeit seiner Überlegungen unter Beweis stellt, nicht den Charakter eines weiteren utopischen Traums, sondern ist als Gesamtentwurf eine bedeutende theoretische Plattform, von der aus wir beobachten können, wie wir uns selbst unserer Lebensgrundlagen berauben. In diesem Zusammenhang lässt sich festhalten, dass einzelne Ideen, die Eckert entwickelt hat und die seinerzeit als spinnert galten, nunmehr ernsthaft diskutiert werden, wenn sie nicht sogar schon in der einen oder anderen Variante realisiert wurden.
Allerdings haben sich angesichts der Verdoppelung der Weltbevölkerung seit 1980 und der enorm fortgeschrittenen Zerstörung der ökologischen Systeme die Vorzeichen für dieses Projekt verändert: Konnte Eckert die Röhre noch als eine konkrete, als eine machbare Utopie konzipieren, so erscheint sie nun eher als eine Dystopie, als eine Konstruktion, in die wir uns zurückziehen werden müssen, wenn wir nicht alsbald unsere Lebensweisen grundlegend verändern.
Kurator: Michael Fehr
In Kooperation mit dem Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Berlin
Eröffnung: 18.01.2024, 19 Uhr
Sprecher: Ulrich Müller und Michael Fehr